Bregenz, 12.8.14. Außergewöhnliches Federvieh ist dem Vogelfänger David Pountney da ins Netz gegangen: eine Schwalbe, die sich ins Paradies der berühmten Tiere verirrt und Unsterblichkeit erlangt; eine Nachtigall, die mit ihrem göttlichen Gesang den Tod überwindet.
Zwei der schönsten Einakter des 20. Jahrhunderts kommen erstmals in dieser Kombination auf der großen Bühne des Festspielhauses zusammen. Im Falle von Simon Laks‘ Hirondelle inattendue – der Unerwarteten Schwalbe – handelt es sich sogar um eine szenische Uraufführung. 1965, also vor fast genau fünfzig Jahren, in Paris entstanden, dauerte es zehn Jahre, bis die Oper erstmals in einer Fernseh-Studio-Produktion in Warschau realisiert wurde, in polnischer Übersetzung. Live und in Originalsprache war sie dann erst fünfunddreißig Jahre später in konzertanten Aufführungen 2009 in Marseille und 2010 wiederum in Warschau zu erleben – mit größtem Erfolg. Der Warschauer Rundfunkmitschnitt unter der Leitung von Lukasz Borowicz erschien 2011 auf CD. Die Zeitschrift „Opernwelt“ feierte die Wiederentdeckung und bezeichnete das Werk als „den vielleicht verrücktesten Einakter der Operngeschichte“. Die Produktion erhielt wichtige Phono-Auszeichnungen in Frankreich. Laks’ Hirondelle inattendue bildet – nach Mieczyslaw Weinbergs Passagierin und André Tchaikowskys Kaufmann von Venedig – den heiteren Abschluss einer Bregenzer Trilogie von Uraufführungen nachgelassener Opern polnisch-jüdischer Komponisten, die alle drei auf dramatische Weise den 2. Weltkrieg und den Holocaust überlebten.
Wer ist Simon Laks?
Aber wer ist Simon Laks? 1901 in Warschau geboren, gehörte Simon (poln. Szymon) Laks zu jener großen Gruppe polnischer Komponisten und Musiker, die sich in den 1920er-Jahren in Paris niederließen, der damaligen Welthauptstadt der Musik. Sie vollendeten ihre Studien am renommierten Conservatoire oder in der Talentschmiede von Nadia Boulanger, ließen sich vom Zauber der Stadt und von den neuen Avantgarde-Strömungen inspirieren, so wie es auch die zahllosen Dichter und Maler taten, die aus aller Herren Länder an die Seine-Metropole strömten, denn in Paris lebte man am Puls der Zeit. 1926 waren es bereits so viele, dass sie sich in einer Gesellschaft zusammenschlossen, der „Vereinigung junger polnischer Musiker“, die ihren Sitz in der damals gerade gebauten Salle Pleyel hatte. Laks spielte eine wichtige Rolle in der Administration dieser „Association“, die von namhaften Persönlichkeiten des Musiklebens gefördert wurde, darunter Ignacy Jan Paderewski, Karol Szymanowski, Arthur Rubinstein, Nadia Boulanger, Maurice Ravel und Leopold Stokowski. Die Konzertreihen der „Association“, in denen die berühmtesten Musiker der Zeit auftraten, bereicherten das Pariser Musikleben mit interessanten Farben. Auch Laks verschafften sie eine Plattform, woraus sich die Zusammenarbeit mit einer Reihe von Größen des französischen Musiklebens entwickelte: Für den Ravel-Spezialisten Vlado Perlemuter und Maurice Maréchal, den führenden französischen Cellisten der Zeit, schrieb er seine Cellosonate, für das Quatuor Roth sein im Krieg verloren gegangenes 2. Streichquartett.
Allroundmusiker, Arrangeur und Leiter des Männerorchesters
Die zunehmend restriktive Ausländerpolitik in Frankreich nach 1933 infolge der wachsenden Exilantenströme aus Deutschland waren der Entwicklung der Karriere des Anfang Dreißigjährigen nicht gerade förderlich, durch den Einmarsch der Deutschen im Juni 1940 in Paris kam sie dann endgültig zum Erliegen. Von den Behörden des Vichy-Regimes aufgrund seiner jüdischen Abstammung inhaftiert, landete Laks zunächst in einem Internierungslager in der Nähe von Orléans. Von dort erfolgte im Juli 1942 die Deportation nach Auschwitz. Laks entkam der Selektion und später dem Arbeitsdienst, weil er als Allroundmusiker, Arrangeur und schließlich Leiter des Männerorchesters im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebraucht wurde. Seinen dramatischen Überlebensbericht veröffentlichte er in Frankreich 1948, eine zweite, überarbeitete Fassung brachte er 1979 auf Polnisch in einem Londoner Exilverlag heraus, in Polen war an eine Publikation zu kommunistischen Zeiten nicht zu denken. Ein ähnliches Schicksal erlebte ja auch Wladyslaw Szpilmans Überlebensbericht, dessen Verfilmung von Roman Polanski als Der Pianist dann Kinogeschichte schreiben sollte. Die deutsche Ausgabe von Musik in Auschwitz erschien erst 1998. Seit Jahren vergriffen, wurde sie anlässlich der Premiere von Laks’ Oper in Bregenz neu herausgebracht. Die Rezeption von Laks’ kompositorischem Schaffen im internationalen Musikleben begann erst vor etwa zehn Jahren. Mittlerweile liegt ein Großteil seines Oeuvres in Referenzeinspielungen vor. Hörproben daraus bietet eine dem Buch beigelegte Begleit-CD.
Nichts war mehr beim Alten
Laks kehrte nach dem Krieg nach Paris zurück. An ein Leben als freischaffender Komponist war allerdings kaum zu denken. Nichts war mehr beim Alten, die Karten wurden neu gemischt. Laks, in den dreißiger Jahren noch Protagonist einer Avantgarde in der Nachfolge Ravels und Szymanowskis, gehörte als Vertreter des Neoklassizismus französischer Prägung nun zur Welt von gestern. Das Erlebnis des Fremdseins, Grundlebensgefühl aller Exilanten, musste er nach seiner Rückkehr in potenzierter Form erleben: Als Jude, der ständig mit der (ausgesprochenen wie unausgesprochenen) Frage konfrontiert war, warum ausgerechnet er überlebt hatte, wo Millionen anderer sterben mussten; als Fremder in seiner Wahlheimat Frankreich; als Entfremdeter in seiner nunmehr kommunistischen Heimat Polen.
Klingende Auseinandersetzung mit der Zerstörung
Laks arbeitete für die Filmherstellungsfirma seines Bruders Leo, der rechtzeitig nach Südfrankreich in die „zone libre“ fliehen konnte und die Besatzungszeit in Verstecken überlebt hatte. Simon, der mehrere Sprachen perfekt beherrschte, kümmerte sich um die Untertitelung von ausländischen Filmen, die für ihre Kino-Premiere in Frankreich vorbereitet wurden, und komponierte Filmmusik unter Pseudonym. Die wenigen Kompositionen, die entstanden, haben einen Bezug zu dem Erlebten, sind klingende Auseinandersetzung mit der Zerstörung der polnischen, der polnisch-jüdischen Kultur. Das erste Werk, das nach dem Krieg im Herbst 1945 entstand, ist sein 3. Streichquartett – die ersten beiden sind während des Krieges verschollen –, dessen thematisches Material ausschließlich auf polnischen Volksliedmotiven beruht, in dem Laks gleichsam eine musikalische Landkarte seiner zerstörten Heimat nachzeichnete. Bei den Bregenzer Festspielen zu hören ist dieses so eingängige wie bewegende Stück mit dem Meccorre Streichquartett am 17. August um 19.30 Uhr im Rahmen von „Musik und Poesie“ im Seestudio, zusammen mit Beethovens 1. Streichquartett.
Das Comeback
Anfang der 1960er-Jahre erlebte Laks als Komponist eine Art Comeback, auf dessen Höhepunkt 1965 seine Oper entstand. Er gewann renommierte Kompositionswettbewerbe mit Kammermusikwerken; in enger Künstlerfreundschaft mit der berühmten polnischen Sängerin Hanna Szymulska entstand ein umfangreiches Liedschaffen, von dem Laks, sonst ein Meister des Understatements, überzeugt war, dass es ihn überleben würde, das aber seiner Wiederentdeckung noch harrt.
Regelmäßige Aufführungen, vor allem auch in Polen, erlebten lediglich seine Acht jüdischen Volkslieder, und die Elegie auf die jüdischen Schtetl auf ein Gedicht von Antoni Slonimski.
„Künstlerportrait – Simon Laks“
Kostproben von Laks‘ Liedkunst gibt es bei der Veranstaltung „Künstlerportrait – Simon Laks“ am 17. August um 16 Uhr im Seestudio. Zu hören sind unter anderem Dédé der Träumer auf ein Gedicht Julian Tuwims, eine Auswahl seiner Bearbeitungen bekannter jiddischer Volkslieder und Das Porträt des Vogels, den es gar nicht gibt von 1964 auf ein Gedicht von Claude Aveline, das sich größter Beliebtheit unter den Zeitgenossen erfreute und einer großen Zahl bildender Künstler als Inspirationsquelle diente (heute als Sammlung im Centre Pompidou in Paris). Aveline lieferte auch den Stoff zu Laks‘ ein Jahr später entstandener Oper – die Verwandtschaft beider Vögel ist, wovon sich Neugierige werden überzeugen können, von gänzlich unerwarteter Art.
1968 beendete Laks seine kompositorische Tätigkeit unter dem Eindruck des Sechs-Tage-Krieges und der daraufhin von der kommunistischen Regierung in Polen angefachten Pogromstimmung, in deren Folge tausende polnischer Bürger jüdischer Abstammung Polen verließen. In Anbetracht der erneuten existenziellen Bedrohung des jüdischen Volkes verließ ihn der Glaube an die Sinnhaftigkeit künstlerischen Tuns. Er legte das Notenpapier beiseite, übersetzte polnische Dissidentenliteratur ins Französische und ergriff die spitze Feder des Chronisten und Polemikers: Bis zu seinem Tod 1983 veröffentlichte er eine Reihe von Büchern in polnischer Sprache, in denen er als unbestechlicher Beobachter des Zeitgeschehens Stellung nahm zu den unterschiedlichsten kulturellen und politischen Ereignissen. Auch dieser Aspekt von Laks’ Schaffen bleibt zu entdecken.
Das Portrait des Vogels, den es gar nicht gibt
Die unerwartete Schwalbe basiert auf der letzten Episode von Claude Avelines Bestiaire inattendu („Das unerwartete Bestiarium“), das 1952 als Suite von Radiostücken vom Französischen Rundfunk produziert worden war, 1955 mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet wurde und 1959 in Buchform im Verlag Mercure de France erschien, der 1948 auch die erste Fassung von Laks‘ Buch herausgebracht hatte. Der russisch-jüdische Schriftsteller Aveline, während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der französischen Résistance, war eine schillernde, einflussreiche Figur der literarischen Nachkriegsszene. In seinem Bestiaire inattendu erzählt er die Geschichten legendärer Tiere wie die von Jonas’ Wal, dem Adler des Prometheus oder dem Esel der Krippengeschichte noch einmal neu, und zwar aus der Perspektive der Tiere, wobei sich die traditionellen Überlieferungen aus der Sicht der Menschen als pure Mystifikation darstellen. Was für ein nicht-französisches Publikum der Erklärung bedarf, hat für ein französisches unmittelbare Evidenz. Denn bei der Hirondelle du Faubourg, der „Schwalbe der Vorstadt“, handelt es sich um ein berühmtes französisches Chanson des Erfolgsduos Bénech/Dumont von 1912, ein Evergreen, den zur Entstehungszeit der Oper ein Großteil der französischen Bevölkerung hätte auswendig mitsingen können, wenn es denn in Frankreich zu einer Aufführung gekommen wäre …
Die Familien-Oper der Bregenzer Festspiele
Laks’ Unerwartete Schwalbe und Strawinskys Nachtigall beziehen sich auf hochinteressante Weise aufeinander. Sowohl bei Strawinsky wie bei Laks steht die Musik selbst im Zentrum der Handlung: bei Strawinsky verkörpert durch den himmlischen Gesang der Nachtigall, bei Laks durch ein reales Chanson, der unfreiwilligen „Heldin“ des Stückes. In beiden Werken geht es um das Eindringen der Protagonistinnen in eine ihnen fremde Welt, und um Rivalität. Die Nachtigall wird aus ihrem natürlichen Lebensraum in einen künstlichen versetzt, den vom Zeremoniell geprägten Hofstaat des Kaisers, wo sie es vorzieht, einen sich anbahnenden Sängerinnen-Wettstreit mit der mechanischen Nachtigall der japanischen Gesandtschaft gar nicht erst anzutreten. Die Schwalbe findet sich als Aussätzige im Paradies der berühmten Tiere wieder, wo sie von ihrer Rivalin, der ebenfalls zur Schwalbe metamorphosierten Prokne (nachzulesen bei Ovid), gedemütigt wird. Dieses Aufeinanderprallen der Welten wird in beiden Werken mit musikalischen Mitteln reflektiert. Bei Strawinsky ergab sich das schon allein durch die Unterbrechung der Komposition zwischen 1909 und 1914, in welchem Zeitraum sich seine Tonsprache über den Feuervogel, Petruschka und Le Sacre du Printemps radikal weiterentwickelt hatte. Bei Laks ist diese Konfrontation das eigentliche Thema der Oper, denn es geht um die Versöhnung von E und U, von Hochkultur und populärer Kultur, die zum Entstehungszeitpunkt der Oper so weit auseinandergedriftet waren wie niemals zuvor in der Geschichte der abendländischen Musik. Ein Thema, dem wir übrigens bei den Bregenzer Festival-Komponisten Olga Neuwirth und HK Gruber in Variationen wiederbegegnen.
„Oben“ und „Unten“
Laks’ Oper steht mit ihrem „Oben“ und „Unten“ ganz in der Tradition von Mozarts Oper, in der die Ebenen gleichfalls mit musikalischen Mitteln bezeichnet sind. Dem humanistischen Ideal der Zauberflöte, das Aufklärung als Bewegung vom Dunkel der Nacht zum Licht des Tages beschreibt, welche ein Weg der Prüfung und der Selbstüberwindung ist, die der naturverbundene Papageno weder bestehen kann noch will, begegnen Strawinsky und – aus nachvollziehbaren Gründen – Laks noch viel mehr mit Skepsis. Wenn am Ende der Rossignol fast wörtlich Sarastros Schlussworte zitiert werden: „Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht“, dann ist das keine Metapher mehr für den Sieg der Tugend, sondern den der Schönheit über den Tod, der Schönheit der Trösterin Musik, ohne die, wie Nietzsche es unübertrefflich formulierte, das Leben „ein Irrtum“ wäre, „eine Strapaze, ein Exil“.
Wie die Zauberflöte sind auch Strawinskys Rossignol und Laks‘ Hirondelle inattendue Werke, in denen sich die Magie des Musiktheaters voll entfaltet. Beide erzählen Geschichten – die eine geheimnisvoll-märchenhaft, die andere witzig-skurril –, die sich auf vielen Ebenen mitteilen, und die durch ihre szenische Pracht und ihren musikalischen Reichtum alle Generationen zu verzaubern wissen. Musik „für aller Gattung Leute“ eben, wie Mozart 1780 launig an seinen Vater schrieb, „ausgenommen für lange Ohren nicht".
(fhw)