Wie eine Rarität den Weg nach Bregenz findet

„Es erfordert manchmal Überzeugungsarbeit, die wir gerne leisten.“

Bregenz, 19.7.19. Mit Kontinuität setzen die Bregenzer Festspiele seit Ende der 1980er Jahr im Festspielhaus eine zumeist selten gespielte Oper aufs Programm, auch Uraufführungen gab es schon. 2019 kommt mit Don Quichotte von Jules Massenet eine weitere Rarität hinzu. Olaf A. Schmitt, Dramaturg der Bregenzer Festspiele, gibt Einblick, wie die Wahl eines Stückes erfolgt, welche Herausforderungen für das künstlerische Leitungsteam damit verbunden sind und wie viele sogenannte Raritäten es überhaupt gibt. 

Es sind Zahlen, die den Laien verblüffen. In der rund 400-jährigen Geschichte der Oper wurden vermutlich an die 60.000 Werke komponiert (Kurt Pahlen: Das neue Opern-Lexikon, 2000). In einschlägigen Verzeichnissen benannt sind rund 6.000 und davon wiederum haben sich „vermutlich nicht mehr als 150“ als Kanon herausgebildet, die regelmäßig auf dem Spielplan stehen, erklärt Olaf A. Schmitt. Die immense Zahl an unbekannten oder verschollenen Opernwerken ist dem völlig anderen „System“ der früheren Jahrhunderte geschuldet: Oper war anfangs ein höfisches Vergnügen des Adels, Hofkomponisten an den unzähligen Fürstenhäusern lieferten sie wie am Fließband. Hinzu kamen Mischformen wie das Pasticcio und sogenannte Compagnien, die über die Lande zogen. „Wir können nur erahnen, wie viel verbrannt oder Kriegen und anderen Zerstörungen zum Opfer gefallen ist. Allein von einem der bedeutendsten Komponisten, Claudio Monteverdi wissen wir, dass er wahrscheinlich zehn Opern komponiert hat, wir aber heute nur noch drei große und einige kurze Szenen kennen. Das zeigt, dass es immer nur ein Vortasten in die Archive, in die Quellen, in die Verzeichnisse ist. Wir suchen alle nach Werken, die irgendwo schlummern …“ 

Je prominenter sich so eine Entdeckung besetzen lässt, umso größer ist die Chance, dass es viele mitbekommen und das Werk seinen Weg ins Repertoire findet. Olaf A. Schmitt: „Es ist immer förderlich, wenn sich berühmte Menschen für ein Werk einsetzen. Als vor einigen Jahren Anna Netrebko Tschaikowskis Iolanta sang, ist da natürlich die Fachwelt hingereist. Man wusste zwar, dass es diese Oper gibt – sie war also keine absolute Entdeckung –, wird aber sehr selten gespielt.“ 

Das Publikum wünscht sich Vielfalt
Das trifft auf den Großteil jener Werke zu, die in den vergangenen Jahrzehnten von den Bregenzer Festspielen als Oper im Festspielhaus aufgeführt wurden. Sie sichern die Vielfalt des jeweiligen Festspiel-Programms. Der zwar überschaubare, aber doch vorhandene Stamm an neugierigen Opernfans nimmt für diese Wiederentdeckungen gerne selbst ein paar Stunden Anreise auf sich. Wie aber wird die Stückwahl getroffen? Das hängt von mehreren Faktoren ab: „Es geht nicht darum, eine Rarität nur um der Rarität willen aufzuführen. Das Werk muss einfach sehr gut sein. Deshalb sprechen wir lieber von Konstellationen aus Stück und ausführenden Künstlern, die zusammenkommen müssen.“  

Zuallererst also: Welcher Stoff kommt thematisch überhaupt für die Konzeption einer Saison in Frage und „wen finden wir als Dirigenten, als Sängerinnen und Sänger, als Regieteam, um sie von einem bestimmten Werk zu überzeugen. Nur dann lohnt es sich wirklich.“ Dieses Feuer muss erst entzündet werden. Denn sich darauf einzulassen, wirft für die Beteiligten auch ganz pragmatische Fragen auf. So steht, am Beispiel der Sängerinnen und Sänger, der kleinen Anzahl an Vorstellungen eine monatelange Vorbereitungs- und Lernzeit gegenüber. Womöglich werden sie die einstudierte Partie in den nächsten 20 Jahren nur noch selten oder auch gar nie mehr singen. Ob der Nerv der Zeit haargenau getroffen wird, wie im Falle von Die Passagierin, bleibt ungewiss. Mieczysław Weinbergs Oper hat von Bregenz aus einen absoluten Erfolgskurs angetreten.  

Werk eines Multitalents auf dem Spielplan 2020
2020 werden die Bregenzer Festspiele als Oper im Festspielhaus Nero von Arrigo Boito spielen. Es ist in mehrfacher Hinsicht eine bemerkenswerte Wahl: Arrigo Boito war nicht nur Komponist und einer der besten Librettisten der Operngeschichte, dem wir unter anderem die Texte zu Otello und Falstaff verdanken. Boito war darüber hinaus ein leidenschaftlicher Forscher über den berühmt-berüchtigten römischen Kaiser. Er fand schon Anfang des 20. Jahrhunderts Dinge über Nero heraus, die erst langsam und nach dem Ustinov-Film (Quo vadis?, 1951) ins Bewusstsein gerückt sind. So entsprach Nero keineswegs dem Filmklischee, war auch nicht der Brandstifter Roms, sondern ein Zerrissener, dem eine ehrgeizige Mutter zur Kaiserwürde verhalf, sowie ein Künstler der Selbstdarstellung. „All das“, so Olaf A. Schmitt, „steckt in dieser Oper und macht es wert, sie aufzuführen.“ 

Die Erfahrung zeigt: eine bekannte Hauptfigur oder ein bekannter Komponist wirken sich positiv auf den Kartenverkauf aus. Sie sind jedoch nicht das maßgebende Kriterium. Entscheidend ist, ob und wie die Musik berührt. Aus welcher Zeit die Oper stammt, macht einen weiteren Unterschied beim Publikumsinteresse aus: „Viele Menschen schrecken vor der Musik des 20. Jahrhunderts zurück. Je später ein Werk geschrieben wurde, umso größer ist diese … Schüchternheit.“ Wie Berthold Goldschmidts Beatrice Cenci von 1949/50 im Vorjahr bewiesen hat, ist diese Angst oftmals unbegründet: „Wir haben aus vielen Publikumsreaktionen gehört: Das ist ja wunderschön! Das ist herrlicher Gesang!“ 

Die Sprache spielt eine große Rolle
Die diesjährige Oper im Festspielhaus Don Quichotte von Jules Massenet wurde 1910 geschrieben. Die „hervorragende Partitur“, der einfache Verlauf der Geschichte, eine weltbekannte literarische Figur im Mittelpunkt wären also optimale Voraussetzungen – nur, Herr Schmitt, warum wird sie dennoch selten aufgeführt? „Die Sprache spielt sicherlich eine große Rolle. Französisch zu singen ist eine wesentlich größere Herausforderung als auf Italienisch zu singen. Es ist in der Aussprache und in der musikalischen Diktion anspruchsvoller. Aber auch kulturelle Faktoren spielen eine Rolle: Prinzipiell hat es die französische Oper, mit Ausnahme von Carmen oder Hoffmanns Erzählungen, im deutschsprachigen Raum immer noch schwer.“ 

Wobei: Don Quichotte beweist das Gegenteil. Die Nachfrage ist hoch, nur für die dritte und letzte Aufführung am 29. Juli ist nach heutigem Stand die Wahl zusammenhängender Sitzplätze noch gut möglich. 

(ami)

04.07.2019

Pressetag 2019

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