"Realistische Situationen langweilen mich"

"Deal or no deal?" So lautete das Thema des Wettbewerbs der Österreichischen Theaterallianz, angelehnt an den Pakt mit dem Teufel in Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz. In seinem Siegerstück Mondmilch trinken katapultiert Autor und Regisseur Josef Maria Krasanovsky das 200 Jahre alte Werk in die Gegenwart: Im Gespräch verrät der gebürtige Salzburger, warum wir uns alle einen Schluck Mondmilch gönnen sollten – und was Knut Hamsun und ein flugunfähiger Papagei damit zu tun haben.

Die Bregenzer Festspiele stehen dieses Jahr ganz im Zeichen von Webers Der Freischütz, und auch Ihr neues Theaterstück Mondmilch trinken ist angelehnt an die Geschichte der magischen Gewehrkugeln, die nie ihr Ziel verfehlen. Bei Ihnen treiben die Kugeln allerdings Gymnastik, essen Eis und wären manchmal lieber ein Dreieck. Herr Krasanovsky, wie viel Freischütz steckt in Ihrem Werk?
Josef Maria Krasanovsky: Das Stück assoziiert sich sehr frei durch den Bilder- und Themenkosmos des Freischütz und schreibt ihn in die Gegenwart hinein. Der erste Teil  bedient sich am Figurenrepertoire der Oper und verhandelt ihre thematische Ausgangsposition: Wer bin ich und wer möchte ich sein? So wie Max im Freischütz stemmt sich die Figur des Polygon gegen die gesellschaftliche Norm und will seine Wirklichkeit gegen die Widerstände aller verändern.

Der zweite Teil bringt eine Wolfsschlucht auf die Bühne – doch statt Hexen, Teufeln und Eulen schickt Mondmilch trinken die Gegenwart in den Ring. Da kämpft sich nicht ein einzelner Max durch die Schlucht, sondern eine Schar an Figuren, die angetrieben durch ihre Sehnsucht versuchen, die Welt und ihre Lebensrealität zu manipulieren. Und ihre Waffe heißt nicht Freikugel, sondern Veränderung. Am Ende wendet sich das Stück dem Motiv der Freischütz-Hochzeit zu und katapultiert sie in die Zukunft. Und dort in der Zukunft, da spielt sich etwas sehr Intimes ab – etwas, das immer da sein wird, solange wir auch da sein werden.

Was hat Sie am Freischütz als Inspirationsquelle gereizt?
Was mir den Freischütz hoch sympathisch macht, ist diese enorme Sehnsucht des Protagonisten, das Faktische zu überwinden und in die eigene Wunschrealität zu überführen. Und seine Sehnsucht ist so unendlich, dass er sich dafür auf Dinge einlässt, die ihm komplett fremd sind und die ihm entgleiten, und so wird er schleichend zu einem anderen Menschen.
Wenn man ehrlich mit sich selbst ist, fühlt man sich da doch sofort zugehörig, weil wir diesen Kampf ja ständig ausfechten, im Alltäglichen und weniger Alltäglichen.
Insofern ist dieses Stück für mich auch ein großer Abend über Sehnsucht – und wie weit man dafür zu gehen bereit ist.

»Milch des Mondes fiel aufs Kraut«, heißt es in Friedrich Kinds Libretto. Sie lassen der Mondmilch eine besondere Bedeutung zukommen: Was hat es mit diesem Getränk auf sich?
Bei all den Nachrichten, Meinungen und Propagandasätzen, die täglich ungefragt auf uns einströmen und zu denen wir uns permanent verhalten sollen – da hätte ich manchmal gern ein Mittel, das mich beruhigt und mir den Stress nimmt, mich allem gegenüber korrekt zu verhalten. Und dieses Mittel ist im Stück das Getränk der Mondmilch. Man könnte sagen: Sie ist eine positive Droge gegen Überforderung.

Ihre Besetzungsliste ist lang, sie reicht von neuseeländischen Kakapos und bengalischen Katzen über das Ehepaar Ilse und Werner bis zu Knut Hamsun. Wie kam es zu dieser Gemengelage?

Realistische Situationen und psychologische Figuren langweilen mich als Autor sehr. Insofern habe ich versucht, Figuren zu finden, die Lust auf das Thema machen, das sie auf der Bühne verhandeln. Mondmilch trinken arbeitet sich ja durch eine Vielzahl an Inhalten, die uns gegenwärtig beschäftigen: Verteilungsfragen, individuelle Lebensführung, Artensterben, Gendergap, Klima – diese Vielfalt an Themen spiegelt sich in der großen Besetzungsliste wider. Ich wollte die ganze Welt auf der Bühne aufmarschieren lassen: die Menschen, die Tiere, das Klima, den Weltraum ... Man kann das ja durchaus mal probieren, so einen Marsch.

Welche Gedanken treiben Ihre Figuren um, was beschäftigt sie?
So unterschiedlich ein flugunfähiger Papagei und ein Literaturnobelpreisträger mit nationalistischer Vergangenheit auch sind – alle Figuren haben eines gemeinsam: Sie stemmen sich mit aller Kraft gegen ihre Lebensumstände und wollen der Welt unbedingt ihr persönliches Stück Glück abringen.

Ist Ihnen eine Figur besonders ans Herz gewachsen?
Vielleicht ein wenig der bereits angesprochene Kakapo. Bei einer Population von knapp 250 Papageien muss man kein Wissenschaftler sein, um zu wissen, was die Zukunft für den Vogel bringen wird. Es ist seine große Neugier, die ihn in diese Situation gebracht hat,
denn er hat keinerlei Berührungsängste mit der ihn umgebenden Welt – und das hat die Welt in Form von Raubtieren und Jäger:innen fleißig ausgenutzt. Man könnte also sagen: Seine große Weltoffenheit kostet ihn seine Existenz. Das hat mich schon sehr berührt, wenn ich ehrlich bin.

Sie werden Ihr preisgekröntes Stück selbst inszenieren: Worauf freuen Sie sich dabei am meisten?
Auf das Schauspiel-Ensemble. Ich hatte das Glück, ein Team aus Schauspieler:innen zusammenstellen zu können, mit denen mich eine intensive langjährige Zusammenarbeit verbindet beziehungsweise mit denen ich schon lange zusammenarbeiten wollte. Mehr kann man sich als Regisseur kaum wünschen. Und natürlich auf den Umstand, dass die Produktion nach ihrer Uraufführung in Bregenz durch ganz Österreich touren wird.

Wo sehen Sie bei der Inszenierung die größte Herausforderung? Gibt es eine Stelle, die für Sie noch ein großes Fragezeichen ist? Oder hatten Sie beim Schreiben die Inszenierung bereits genau vor Augen?
Das Stück hat enorm viele Ortsund Figurenwechsel: Da schiebt sich die halbe Welt auf die Bühne und löst sich gleich wieder auf. Das liegt mir als Regisseur sehr, diese fast unmögliche Anforderung an Bühne und Schauspieler:innen. Diese Unmöglichkeit ist für mich ein Katapult für die Kraft des Theaters. Klar gibt es Bilder, die ich für bestimmte Momente im Kopf habe – aber nachdem ich vor allem an die kollektive Kraft eines Teams glaube, wird das meiste bei der Arbeit im Proberaum entstehen.

Was würden Sie jemandem raten, der befürchtet, Mondmilch trinken vielleicht nicht zu verstehen?
Ich glaube, dass es in diesem Sinne nichts zu verstehen gibt. Es ist ein Abend, der das Publikum an die Hand nimmt und in eine absurd-schräge Welt führt – die der unseren nicht so unähnlich ist.
Und als Regisseur würde ich vielleicht noch anmerken, dass Humor ein Trumpf ist, den Mondmilch trinken immer und immer wieder spielt.

26.07.2024

Josef Maria Krasanovsky (Regisseur und Autor)

© Christian Ariel Heredia